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Am Nil droht humanitäre Katastrophe

Dr. Stephan Roll sprach über Ägyptens „unvollendete Revolution“

Artikel aus der Main-Post, vom 6.11.2013

 

Mit dem Thema „Ägyptens unvollendete Revolution“ war die Herbstveranstaltung des Arbeitskreises auf Burg Rothenfels und der Sparkasse Mainfranken am Montag im Betriebsrestaurant der Firma Bosch Rexroth topaktuell und mit dem Referenten Dr. Stephan Roll von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin hatten die Veranstalter einen Glücksgriff getan. Mit Hilfe von Grafiken, Bildern und kurzen Filmsequenzen ermöglichte er es den Zuhörern, Nachrichten, Zeitungs- und Fernsehbilder der letzten Monate und Jahre einzuordnen und das komplizierte Geschehen verständlicher zu machen.
Für Ägyptens Bevölkerung ist die jetzige labile Lage bedrohlich. Die Touristen bleiben weg und damit ein großer Teil des Einkommens. Das kann auch Europa nicht gleichgültig sein, denn Ägypten ist das wichtigste Land in der Region.
Seit das Land in den 1950er Jahren unter Oberst Gamal Abdel-Nasser seine Unabhängigkeit erlangte, hatte das Militär stets eine wichtige Rolle gespielt, auch unter Nassers Nachfolger Anwar as-Sadat, der – zum Erstaunen der westlichen Welt – Frieden mit Israel schloss. Nach Sadats Ermordung kam Husni Mubarak an die Regierung. Obwohl er das Land herunterwirtschaftete, konnte er sich unter allen ägyptischen Staatschefs seit 1952 am längsten an der Macht halten. Dass er am Ende darauf hinarbeitete, sein Amt in der Familie weiter zu vererben, dürfte wesentlich zu seinem Sturz durch die Massen beigetragen haben.

Starkes Militär

Kern des Herrschaftssystems in Ägypten war und ist das Militär. Ägyptens Armee ist die größte in der arabischen Welt. Sie stellt einen Staat im Staat dar, verfügt über ein eigenes Wirtschaftsimperium und ist in allen Teilen des Staatsapparats gut vernetzt.
Die zweite große politische Kraft ist der politische Islam, der aber keine homogene Einheit darstellt. Die Muslim-Bruderschaft entstand ursprünglich als caritative Vereinigung und schlug später eine sozialrevolutionäre Richtung ein. Wesentlich fundamentalistischer ist die Dawa al-Salafiya, die seit den 1970er Jahren eine wichtige Rolle spielt. Kleinere Gruppen ohne wesentlichen Einfluss sind die radikalen Jihadi und die Sufi. Die im ganzen sunnitischen Islam hoch angesehene Al-Azhar-Universität in Kairo entwickelt daneben ihr eigenes Profil. Diese verschiedenen Gruppen sind vielfach miteinander verwoben.
Auf den Sturz Mubaraks waren die Islamisten zunächst nicht vorbereitet. Als aus freien Wahlen Muhammad Mursi als Präsident hervorging, glaubten sich die Muslim-Brüder am Ziel. Der neue Präsident arrangierte sich mit den Militärs und die ließen ihm ein Jahr lang freie Hand. Dieses Jahr nutzte Mursi zu Veränderungen, die aber von einem Teil des Staatsapparats, zum Beispiel der Justiz, nicht akzeptiert wurden. 2012 setzte er mit fragwürdigen Methoden eine neue Verfassung durch, die dem Islam noch größeren Einfluss einräumte, als er ohnehin hatte.
Damit spaltete Mursi das Land. Das war der Grund, warum die Armee eingriff und ihn absetzte. Die eher akademische Frage, ob es sich dabei um einen Putsch oder eine „Korrektur“ handelte, beantwortete Roll mit der Feststellung „Es war ein Putsch.“

Gewalt statt Verhandlungen

Das Militär habe auf Gewalt gesetzt, statt auf Verhandlungen. Dass die christlich-koptische Minderheit von etwa zehn Prozent sich gegen Mursi und auf die Seite der Armee stellte, war nach den Umständen verständlich, aber nach Rolls Einstellung ein Fehler. Es hatte zur Folge, dass binnen weniger Tage nicht weniger als 50 christliche Kirchen niedergebrannt wurden. Dass das Militär wenig tat, um sie zu schützen, könnte auch auf der Erwartung der Putschisten beruhen, dass man damit den Westen um so leichter auf seine Seite bringen könnte.

Roll rechnet in den kommenden Jahren mit verstärkter terroristischer Gewalt, die wieder dem Militär als Rechtfertigung dienen werde. Drei Entwicklungsmöglichkeiten seien denkbar:

• Im besten Fall eine Einigung zwischen der Armee und den Muslim-Brüdern. Das ist aber nach Ansicht des Referenten leider die am wenigsten wahrscheinliche.
• Die zweite Möglichkeit wäre eine Stabilisierung der jetzigen Lage
• Der schlimmste Fall wären Destabilisierung, Terror und Polizeigewalt auf unabsehbare Zeit.

In der Diskussion kam der Vorschlag, man möge doch den Ägyptern Zeit lassen, Demokratie und Menschenrechte reifen zu lassen. Im Abendland habe man dazu schließlich auch Jahrhunderte gebraucht, Aber dazu, meinte der Referent, bleibe keine Zeit. Wenn es nicht gelinge, die Probleme in den Griff zu bekommen, dann drohe angesichts einer rasant wachsenden Bevölkerung eine humanitäre Katastrophe größten Ausmaßes, deren Auswirkungen am Mittelmeer nicht halt machen werden. „Ägypten ist viel zu wichtig, um es einfach fallen zu lassen.“